Im Gegensatz zum großen, vom Unternehmen gewollten agilen Turnaround, entstehen hybride Systeme nicht selten ganz von allein, zum Beispiel durch informelle Führung und durch informelle Gruppen und manchmal aus der Not heraus. Manchmal aus reiner Experimentierfreude einzelner Bereiche oder Mitarbeiter*innen, die erkennen, dass für die bestehenden – komplexen – Herausforderungen neue Arten des Arbeitens eine echte Option sein könnten. Trotzdem lassen sich hybride Systeme natürlich auch geplant einführen.

Die reine New-Work-Organisation gibt es nicht

Unternehmen, die diese Sachverhalte erkannt haben, starten manchmal – nicht selten beratergetrieben – einen radikalen Transformationsprozess. Ihr erklärtes Ziel ist die vollständige Abschaffung der traditionellen hierarchischen Aufbauorganisation. Dann werden sämtliche Abteilungen aufgelöst und alle Hierarchien unterhalb des Top-Managements abgeschafft. Ersetzt wird das alles durch neue, auf irgendeine Art agile oder nach „New-Work“-Maßstäben ausgerichtete Strukturen, Prozesse, Methoden und Regeln. Dies schließt selbstverständlich eine neue Führungskultur ein, die transformativ, also coachend und unterstützend, und nicht mehr transaktional, also eher anweisend und kontrollierend, ausgerichtet ist. Welches Problem damit eigentlich gelöst werden soll, wird selten konkret formuliert oder gar zu einem späteren Zeitpunkt evaluiert.

Diese Totalabkehr vom klassischen System verkennt zum einen, dass es leider unternehmerische Aktivitäten gibt, für die der klassische Ansatz ideal ist. Und de facto gibt es keine Organisation, die ohne hierarchische Systeme und Verantwortlichkeiten auskommt. Allein schon deshalb, weil unser Rechtssystem (Gesellschaftsrecht, Aktiengesetz, GmbH-Gesetz u.v.a.m.) solche Positionen und Verantwortlichkeiten in Gestalt von Vorstand, Geschäftsführung etc. erzwingt. Das heißt: Unternehmen sind, gleichgültig, welche Organisationsform sie sich geben, im besten Fall hybrid.

Hybrid ist allerdings nicht gleich hybrid. Es gibt einige Ausgestaltungsmöglichkeiten, um auf Ebene der Organisation beide Organisationsmodelle zu etablieren. Hybride Wege können sehr unterschiedlich und damit auch mit unterschiedlichen Implikationen für das Unternehmen verbunden sein. Vor allem folgende Wege zeigen sich in der Praxis[1]:

Hybrid-Weg 1: Kooperationen mit Start-ups

Dieser Weg soll hier allerdings nur kurz und der Vollständigkeit halber dargestellt werden, ist es doch der Weg, den im Grunde nur Dax oder M-Dax-Unternehmen gehen, bzw. zu gehen in der Lage sind.

Ist das nötige Know-how für Innovationen nicht im Unternehmen vorhanden, kann eine Lösung darin bestehen, mit einem Start-up zu kooperieren. Das Spektrum reicht dabei von der kurzfristigen Entwicklungspartnerschaft über eine finanzielle Beteiligung bis hin zu längerfristigen Geschäftsbeziehungen, in deren Rahmen das Unternehmen sein eigenes Portfolio um Startup-Produkte erweitert, sich vom Start-up Komponenten zuliefern lässt oder aber dem Start-up Büroflächen oder Produktionsanlagen im eigenen Haus zur Verfügung stellt.

Es gibt verschiedene Arten von Startup-Programmen der Konzerne, von denen hier vier wesentliche Kategorien genannt sind:

  1. Inkubatoren für den schnellen Start neuer Geschäftsmodelle
  2. Acceleratoren für die zügige Umsetzung einer Idee bis zur Marktreife
  3. Venture Capitals (VC) als Risikokapitalgeber für die finanzielle Beteiligung an vielversprechenden Start-ups
  4. Unternehmensübergreifende Kooperationsprogramme als gemeinschaftliche Förderung von Start-ups

Im Startup- und Innovationsmonitor 2020, einer DACH-Studie der Startup- und Innovationsprogramme der mm1 Consulting & Management Partnerschaftsgesellschaft[2] wurden bei den 30 DAX-Unternehmen 50 eigene und 10 übergreifende Programme identifiziert. Die Hälfte der unternehmenseigenen Programme (25) sind VCs, es gibt 16 Acceleratoren, etwa jedes fünfte Programm ist ein Inkubator. Die meisten Unternehmen betreiben drei eigene Programme, Bayer sogar vier. Bei Deutsche Post, Deutsche Wohnen, HeidelbergCement, Infineon, Linde, MTU Aero Engines und Vonovia konnten auf Basis der Studienquellen keine eigenen Programme der o.g. Kategorien identifiziert werden. Allerdings betreiben einige dieser Unternehmen themenverwandte Aktivitäten.

Mittelständische Unternehmen tun sich mit diesem Weg naturgemäß schwer, weshalb auf eine vertiefende Darstellung hier verzichtet wird. Die o.a. Studie bietet interessierten Lesern allerdings wertvolle Impulse und kann bei mm1 kostenfrei bezogen werden: https://mm1.com/ch/ueber-uns/aktuelle-publikationen/recycle/studie-startup-und-innovationsmonitor-2020/

Hybrid-Weg 2: Die Ausgründung (Spin-Off)

Auch dieser Weg bedarf regelmäßig einer gewissen Unternehmensgröße und soll ebenfalls nur kurz skizziert werden. Dabei sind Spin-offs keine Erscheinungsform des New Work oder wurden als hybride Organisationsform für das Stammhaus angesehen.

Treiber war in vielen Fällen eine Kompetenzbündelung im eigenen Haus, die dort nicht hinreichend genutzt werden konnte. Ein typisches Beispiel dieser Art sei die Freudenberg IT SE & Co. KG erwähnt, die unter anderem auf die SAP-Beratung spezialisiert war. Als ehemalige Inhouse-Abteilung wurde sie im Jahr 1995 im Rahmen eines Spin-Off als Teil der Freudenberg Group in die Selbständigkeit entlassen. Nach vielen erfolgreichen Jahren verkaufte die Freudenberg Group die Freudenberg IT SE & Co. KG im Jahr 2019 an die Syntax, die damit zu den weltweit führenden IT-Dienstleistern aufstieg.

Hybrid-Weg 3: Transformation einzelner Bereiche

Statt auf Startup-Kooperationen oder Ausgründungen setzen manche Firmen auf die Transformation einzelner Bereiche, um Hybridität zu verwirklichen. Oder vielmehr: Sie lassen die Transformation einzelner Bereiche, die ein Interesse daran haben, mit neuen Arbeitsweisen zu arbeiten, zu. Dies funktioniert auch bereits bei kleineren Unternehmen.

Beispiel: Bei der itdesign GmbH aus Tübingen, die Software und Beratung für Projekt- und Portfoliomanagement (PPM) sowie Kundenbeziehungsmanagement (CRM) anbietet, gibt es einzelne Units, in denen nach agilen Maßstäben in Anlehnung an den holokratischen Ansatz gearbeitet wird. Die Mitarbeitenden haben hier die Freiheit, Ideen für innovative Projekte zu entwickeln und sich dafür Mitstreiter zu suchen.

Ähnlich verhält es sich bei der JANUS Engineering AG aus Sindelfingen, die insgesamt ein gutes Stück näher an der Holokratie als Organisationsform dran ist, auch wenn sie, nicht zuletzt aus gesellschaftsrechtlichen Gründen, auch nicht die „reine holokratische Lehre“ praktiziert.

Die Transformation eines internen Bereichs eignet sich besonders dann, wenn es sich um einen Bereich handelt, der ohnehin relativ eigenständig arbeitet und eine überschaubare Zahl von Schnittstellen zu anderen Bereichen im Unternehmen hat. Dies scheint typischerweise in IT-Unternehmen der Fall zu sein, bei denen die Teams in Projekten bei ihren Kunden arbeiten. Nicht von ungefähr hat eine der bekanntesten agilen Methoden – Scrum – ihre Wurzeln in der Softwareentwicklung.

Umgekehrt gilt: Je mehr Schnittstellen zu anderen, klassisch aufgestellten Abteilungen vorhanden sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeit in der anders aufgestellten Einheit behindert wird. Dann werden Inputs, die schnell gebraucht werden, aus den anderen Bereichen womöglich nicht frühzeitig genug geliefert. Oder Personen, auf deren Kooperation das Team angewiesen ist, werden nicht freigestellt. Es geschieht also – bewusst oder unbewusst – das, was viele fürchten, wenn die Rede davon ist, agiles, neues Arbeiten in einem ansonsten traditionell aufgestellten Unternehmen zu verwirklichen: Das agile Team wird vom Rest des Unternehmens ausgebremst. Besonders virulent wird dieses Problem bei den Hybrid-Modellen, die eine besonders tiefe Durchdringung der Organisation mit neuen Arbeitsformen implizieren: agilen Netzwerken, die neben dem weiterhin bestehenden Organigramm existieren.

Hybrid-Weg 4: Übergreifende Problemlösungen in Netzwerken

Dies scheint mir der Weg zu sein, der branchenübergreifend auch in den meisten kleineren und mittleren Unternehmen gangbar ist.

Gemeint sind hier Teams, die interdisziplinär und selbstgesteuert, also jenseits der hierarchischen Struktur temporär zusammenarbeiten. Dabei sind zwei Varianten möglich:

  1. Entweder arbeiten solche Netzwerkteams oder Projektgruppen im Rahmen eines strategischen Transformationsprogrammes an großen Ideen, die der Weiterentwicklung des Unternehmens dienen. Sie beschäftigen sich zum Beispiel mit der Einführung einer neuen Produktlinie, der Überarbeitung der administrativen Prozesslandschaft oder Neugestaltung der Supply Chain.
  2. Oder sie arbeiten im Alltagsgeschäft an kleineren Lösungen für akute bereichs- und abteilungsübergreifende Probleme oder an spontan entwickelten Produkt- und Serviceideen.

In manchen Betrieben finden die Teams selbstgesteuert, etwa über eine digitale Plattform, zusammen. In anderen gibt es ein Managementteam, das bei der Zusammenstellung hilft. Und manchmal schreiben Unternehmen auch Aufgaben aus, um die sich die Mitarbeitenden bewerben können.

Einige meiner Kunden berichten, so zum Beispiel die Zahnen Technik GmbH, Arzfeld oder die B.i.Team GmbH, Karlsruhe, dass sie sehr gute Erfahrungen damit gemacht haben, dass sich die Teams im Wesentlichen aus Freiwilligen rekrutieren. Somit ist ein hohes Maß an Interesse und Motivation sichergestellt.

Wenn viele Projekte gleichzeitig über Netzwerkstrukturen angestoßen werden, etablieren manche Unternehmen ein steuerndes Kernteam. Dieses achtet dann auf die gemeinsame Ausrichtung aller Aktivitäten nach den strategischen Unternehmenszielen: Es organisiert Veranstaltungen zum Informationsaustausch zwischen den Teams. Und es nimmt neue, zu bearbeitende Themen auf und koordiniert deren Bearbeitung. So wird verhindert, dass mehrere Parteien am gleichen Thema arbeiten, ohne voneinander zu wissen.

Knackpunkt ist, die Informationen ins Fließen zu bekommen und einen strukturierten, effizienten Austausch zu ermöglichen. Zwischen den einzelnen Teams. Aber auch zwischen ihnen und der Bestandsorganisation. Diese regelmäßige Rückkopplung der Ergebnisse ins Unternehmen soll verhindern, dass die Projektgruppen als „Fremdkörper“ in der Bestandsorganisation gesehen werden.

Zusammenfassung

Die Hybrid-Modelle der Unternehmensentwicklung und der Problemlösung im Netzwerk haben den Vorteil, dass sich – im besten Sinne der organisationalen Ambidextrie – das Beste aus beiden Welten vereinen und nutzen lässt: Effizienz in der Nutzung der Kernkompetenzen in eher klassischen Organisationsstrukturen (Exploitation) und Kreativität zur Entwicklung neuer Problemlösungen in Netzwerken (Exploration).

Durch den stetigen personellen Austausch erweitert sich das Verhaltensrepertoire und die Problemlösungskompetenz im Gesamtunternehmens durch die Entwicklung neuer Denkmuster, das Erlernen neuer Methoden und Fertigkeiten und damit auch letztlich die Unternehmenskultur insgesamt. In den Netzwerkteams lernt ein wirklich breiter Schnitt von Mitarbeitenden neue, etwa agile Vorgehensweisen und das Prinzip der Selbstorganisation kennen. Zudem können viele Mitarbeitende ihr Fachwissen weiter ausbilden, womit sich die Anzahl der Spezialisten im Unternehmen erhöht. Die Organisation entwickelt sich auf dem Weg über die Problemlösung im Netzwerk also ständig weiter.

Mit der agilen Durchdringung wachsen auch die Anforderungen an jeden Einzelnen. So muss die Organisation in der Breite dafür sorgen, dass das Know-how in Bezug auf agiles Arbeiten, aber eben auch das Verständnis für dessen Notwendigkeit, wächst. Dafür braucht es viel Kommunikation, Unterstützung, Training, Coaching und auch Mut, Geduld und Vertrauen in die Menschen. Zudem wird das Unternehmen seine Bestandsorganisation kritisch prüfen müssen: Stehen die dort geltenden Strukturen, Prozesse, Regeln, Instrumente und Vorgaben der agilen Arbeit in den Netzwerkteams entgegen?

In einer von einer sehr starken Kontrolllogik getriebenen Organisation wird die agile, explorative Arbeit in selbst gesteuerten Netzwerkteams schnell an ihre Grenzen stoßen. Das Management wird hier kaum bereit sein, sich ernsthaft damit anzufreunden, dass kreative Innovationsarbeit – so unaufwändig sie auch gehalten sein mag – erst einmal nicht effizient ist, sondern stattdessen Kosten und Unsicherheiten verursacht.

Die Haltung der Führungskräfte ist also sehr wichtig, denn sie entscheidet über den Erfolg eines hybriden Systems. Wenn Führungskräfte es blockieren, den Teams kein Vertrauen schenken und auch die Wichtigkeit hybriden Arbeitens nicht erkennen, dann hat es keine Chance.

Doch wenn es gut läuft, sollte es gelingen, der größten Herausforderung, die in allen hybriden Systeme steckt, gerecht zu werden, nämlich: in der Bestandsorganisation glaubhaft rüberzubringen, dass das zweite „Betriebssystem“ keine Konkurrenz zum ersten ist, sondern eine Ergänzung. Eine Ergänzung, die dazu beiträgt, eine lebendige Organisation zu schaffen, die langfristig überlebensfähig ist.

Autor:

Michael Kohlhaas ist Geschäftsführender Gesellschafter der 100PersEnt GmbH & Co. KG